Tag 61, 16.07.23
Unverhofft kommt oft
Anja:
Das Schöne auf so einer langen Tour ist ja, dass man ehrlich gesagt am Morgen noch keine Ahnung hat, was der Tag bringt. Natürlich glaubt man, es zu wissen. So zum Beispiel heute: wir glauben zu wissen, dass uns ein unspektakulärer Tag bevorsteht. Die Wege verlaufen zu 100% auf befestigten Strassen, der Himmel wird bewölkt sein, aber grösstenteils dicht halten und im Verlauf des Nachmittags, nach ziemlich genau 17 km, werden wir unser Zelt auf einem Parkplatz aufstellen, der um diese Jahreszeit leer steht. Das glauben wir zu wissen (auch nach über 60 Tagen haben wir unsere eigene Unwissenheit noch nicht erfasst…).
Zu Beginn hält sich der Tag noch an unseren Plan. Wir frühstücken, bauen unser halbnasses Zelt ab, verstauen alles und machen uns auf den Weg. Alles brav der Strasse entlang. Da heute Sonntag ist, hat es merklich weniger Verkehr als gestern. Wir grüssen die Autofahrer freundlich und sie winken ebenso nett zurück. Zack noch ein Lächeln dazu und die Sache macht richtig Freude! Dennoch bin ich ganz froh, als wir von der Hauptstrasse weg und auf eine weniger befahrene und nicht asphaltierte Nebenstrasse abbiegen können.
Hier erlebe ich nun die erste Überraschung des Tages: mein erstes norwegisches Rentier taucht auf! Es steht in der von Birken gesäumten Zufahrt eines Hauses und sieht mich seelenruhig an. Erst als ich mein Handy zücke für ein Beweisfoto, erinnert es sich daran, zu türmen. So gibt’s dann ein Beweisfoto von vorn und eins von hinten:
Unsere nächsten Tierbegegnungen sind weniger überraschend. Nebst Schafen, die wir dauernd antreffen, kommen wir an einer Herde grosser schwarzer Kühe vorbei. Mel und ich sind beide heilfroh, dass sie sich hinter einem Zaun befinden. So viel Aufmerksamkeit, wie sie uns entgegenbringen, ist uns definitiv nicht geheuer…
2,5 km vor dem Erreichen unseres Zeltplatzes kommen wir an einem kleinen Bahnhof vorbei. Wir setzen uns kurz auf das Bänkchen vor dem gut erhaltenen Stationsgebäude, das heutzutage allerdings ein Wohnhaus zu sein scheint. Kaum abgesessen, werden wir von einem gut gelaunten Herrn im besten Alter angesprochen. Er interessiert sich sehr für unsere Tour und wir erzählen gerne, welche Eindrücke wir bis anhin gesammelt haben. Dank ihm erfahren wir, dass das Stationsgebäude zwar wirklich als Wohnhaus genutzt wird, es aber dennoch einen Warteraum und eine Toilette gibt. Perfekt, dann werde ich der gleich mal einen kurzen Besuch abstatten.
Als ich zurückkomme, sieht mich Mel mit einem ominösen Lächeln an. Der Mann, der sich mittlerweile als Jan vorgestellt hat, besitzt ein Cabin in den Bergen, das aktuell leer steht. Wir dürfen kostenlos da übernachten, wenn wir wollen. Jan würde uns die 15 km zum Cabin fahren und morgen nach dem Frühstück wieder abholen kommen, so dass wir unsere Wanderung am Bahnhof von Reitan fortsetzen können. Ein so grosszügiges Angebot können wir unmöglich ablehnen. Wir bedanken uns ganz herzlich und schon sind wir im Pick-Up von Jan unterwegs.
Beim Cabin angekommen, zeigt uns Jan sein gemütliches Zweit-Zuhause. Das hat zwar weder Strom noch fliessend Wasser, ist aber super gemütlich und sehr gepflegt. Jan holt gemeinsam mit uns mehr Feuerholz rein. Er lässt es sich nicht nehmen, trotz des einsetzenden Regens für uns am nächsten Bach Wasser zu holen. Er schreibt uns noch seine Telefonnummer auf, falls etwas sein sollte und verabschiedet sich dann mit dem Versprechen, uns morgen um 08.00 Uhr wieder abzuholen.
Mel und ich sind beide überglücklich. Statt einer Regennacht im Zelt verbringen wir gemütliche Stunden an diesem behaglich Ort. Unglaublich, wie grossherzig und hilfsbereit Menschen sein können. Und das hatten wir bei allem vermeintlichen Wissen heute Morgen nicht auf dem Plan. Wo das Wissen aufhört, fängt der Zauber an.
Ich probiere nomol än Kommentar zmache. Ich glaube mini ganze geistige Ergüsse vo dä Vergangeheit händ eu gar nie erreicht