Travis, Anja & Mel Schwendemann & Schönbächler
Tag 135, 28.09.23
Kultur 2.0
Mel:
Das Frühstück in der Unterkunft ist riesig und lässt uns nicht hungrig zurück. Die Auswahl hält neben allerlei Selbstgemachtem auch zwei nach Fleisch aussehende Aufschnitte bereit. Während der eine Aufschnitt dunkel ist, ist der andere grau. Wir fragen uns, was das wohl sei… Anja ist mutig und probiert von dem grauen Aufschnitt. Nach dem ersten Bissen kann sie nicht genau definieren was es ist… Auf jeden Fall tierisch. Vielleicht Innereien?
Nach dem wir unsere Tages-Etappe gestartet haben und zusammen in der ersten Pause sitzen, erzählt Sandra, dass sie mit der Besitzerin noch gesprochen hat. Es wäre wohl sogar Wal angerichtet gewesen. (Sandra hat nicht das Frühstück in der Unterkunft genutzt.) Das bedeutet, dass entweder das graue oder das dunkle, Wal war… wie finde ich das jetzt? Nun auf eine Art ist es wieder ein Stück Kultur, aber mir kommen all diese furchtbaren Bilder in den Sinn, wie Wale geschlachtet werden. Ich bin froh, hab ich nicht probiert.
Wir gehen weiter und ich studiere noch immer über den Wal nach, als das eintrifft, was wir uns schon öfters ausgemalt haben. Wir kommen an einen Rentierzaun, der in einem grossen Kreis angelegt ist. Hier werden die Tiere gesammelt, sie werden nach Familienbesitz getrennt, markiert, geimpft und diejenigen ausgesucht, die geschlachtet werden. Erst einmal denken wir beim Anblick des Zauns nicht viel dabei. Schon oft haben wir das gesehen. Es sind Leute anwesend, aber auch das ist nicht unüblich. Doch dann hören wir im Innern des Zaunes, der mit Planen nicht einsehbar ist, ein Getrampel, Rufe und Schnaufen von Rentieren. Wir laufen doch tatsächlich direkt in eine Rentier-Selektionierung hinein.
Bei der Weggabelung zum Zaun-Kreis lassen wir unsere Rucksäcke zurück und laufen voller Neugier zum Zaun. Wenn wir nur von aussen einen Blick werfen dürfen, sind wir schon glücklich. Uns kommt eine junge Frau entgegen, sie fragen wir, ob es möglich ist, mit dem Besitzer zu sprechen. Sie verweist zu einem älteren Mann, der gleich in der Nähe steht. Sandra geht vor, da sie mit ihrer Muttersprache (Norwegisch) gleich ins Gespräch kommen kann. Nach der Anfrage, ob wir hineinschauen können, grinst der Herr und macht eine Geste, die man unmissverständlich als „nur für Geld“ deuten kann. Sandra scherzt, dass sie Kekse anbieten kann. Wir kommen ins Gespräch. Er ist das Familienoberhaupt von einer der fünf Familien, die hier in der Gegend Rentiere haben. Als er erfährt, dass wir zwei Schweizerinnen sind, merke ich sofort, dass er Freude hat. Er hat wohl selbst lange in der Schweiz gelebt und noch Verwandte dort. Daraufhin läuft er davon und winkt uns zu, wir sollen ihm folgen. Er geht schnellen Schrittes direkt zum Zaun und dann durch eine kleine Öffnung hinein. Ich kann es kaum glauben, wir dürfen in den Kreis hinein, mitten ins Geschehen.
Ich stelle mich nach dem gebückten Eintreten wieder gerade hin und kann nicht aufhören zu staunen. Dutzende von Rentieren in allen Grössen laufen hier im Kreis. In der Mitte stehen einige Leute mit Lasso in den Händen und beobachten die rennenden Tiere ganz genau. Ich bin mir bewusst, was das für eine Ehre ist, hier sein zu dürfen!
Wir unterhalten uns lange mit dem Familienoberhaupt und erfahren viel über diese Tiere, die Arbeit und Traditionen der Sami. Jetzt ist die Zeit, in der die Rentier-Kühe gedeckt werden. Nach gut 8.5 Monaten im Mutterleib werden die Kälber dann geboren. Daher findet im Frühjahr auch die Markierung der neuen Tiere statt. Im Herbst, also jetzt, werden die Tiere wieder zusammengetrieben um diejenigen auszusuchen, die sie zur Schlachtung in die Industrie geben. Meistens sind dies männliche Tiere. Oder Tiere, die den kommenden Winter nicht überstehen würden. Zudem wählen die Samis auch einzelne Tiere aus, die zum privaten Gebrauch gleich hier auf dem Platz getötet werden. Auf Nachfragen hin bestätigt der „Boss“, dass dies so schon seit Generationen gemacht wurde. Am Prozess hat sich beinahe nichts geändert, nur das sie früher keine Zäune hatten und natürlich die Industrie kein Teil davon war.
Ich sehe, dass einige der Tiere blutige Geweihe haben. Das feine Haar, welches das Geweih bedeckt hängt einigen noch herunter. Der Herr sagt, dass jetzt zur Deckungszeit die Rentiere dieses feine Fell selber abschaben, damit ihr Geweih zu einer noch gefährlicheren Waffe wird. So können sie sich gegenüber anderen Männchen behaupten.
Ein junger Mann hat nun einen grossen, stattlichen Bullen mit dem Lasso gefangen. Das Rentier rennt gnadenlos weiter. Gut 250 Kg wiegt das Geschöpf. Dies bringt natürlich viel Kraft mit sich. Ich kann mir daher vorstellen, welchen Zug der junge Mann am anderen Ende des Strickes halten muss. Nach einiger Zeit liegt das Tier mit Hilfe von drei Personen am Boden. Ich schaue zu, wie sie das Tier töten. Erst habe ich mir überlegt, ob ich dieser Handlung zuschauen soll, wer weiss, wie ich darauf reagiere. Ich habe noch nie eine Schlachtung gesehen. Ich entscheide mich fürs Bleiben. Anja verlässt den Zaun-Kreis, für sie ist dies nichts.
Die Tiere verbringen im Gegensatz zu unseren Kühen und anderen Nutztieren ihr Leben in der freien Natur. Sie werden normalerweise nicht zugefüttert und können ihr Leben so natürlich wie möglich leben. Das hier ist ein „natürlicher“ Prozess und die Samis wissen genau, was sie machen. Ich staune daher nicht schlecht, als ich beinahe kein Blut sehe. Mit zwei zielgenauen Stichen ist es vorbei. Es berührt mich, das Leben dieses imposanten und wunderbaren Tier zu Ende gehen zu sehen, aber ich bin nicht geschockt. Mir ist dies lieber als die Massentierhaltung, die bei uns leider noch zu oft ausgeführt wird. Und ich bin sicher, dass dieses Tier ganz genutzt wird. Die Samis nehmen das, was sie wirklich brauchen, es wird beinahe nichts weggeschmissen, weil zu viel genommen wurde. Auch dies ist in unserer Industrie nicht so. Ich frage beim Familienoberhaupt nach, ob sie über dem Tier einen Segen oder ähnliches aussprechen, wenn sie ihm das Leben nehmen. Er verneint dies, sagt aber, dass sie mit dem Gehirn des Tieres und dem Geweih ein Ritual vollziehen um sich zu bedanken. Leider geht er darauf nicht mehr gross ein.
Er geht nochmal auf das Leben der Rentiere ein, dass die Tiere ein gutes und freies Leben geniessen. Im Winter 2020 und 2022 mussten sie die Rentiere jedoch das erste Mal zufüttern. Dies kam ihm ganz komisch vor, weil es eigentlich meist umgekehrt ist. Die Rentiere füttern sie und nicht sie die Rentiere. Der Klimawandel sei schuld…
Dann gesellt sich der Sohn des Familienoberhaupts dazu. Der junge Mann, der dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist, ist neugierig was wir so machen. Schnell wendet sich das Gespräch jedoch wieder der Sami-Kultur zu. Anscheinend hat der Sohn vom Grossvater bereits mit 1.5 Jahren sein erstes Messer erhalten. Die Sami lassen also ihre Kinder schon sehr früh teilhaben. Mit diesem Messer lernte er dann bald das familieneigene Schnittmuster zu schneiden, das sie all ihren Rentieren am rechten Ohr verpassen.
Sandra und ich möchten uns fast nicht mehr von diesem Spektakel lösen, doch es muss weitergehen. Die restlichen ca. 18 der insgesamt 27 Kilometer laufen wir meist weit voneinander getrennt. Jeder verfolgt seinen eigenen Rhythmus und Geschwindigkeit. Wärend ich etwas länger Mittagspause mache, brechen Sandra und Anja eher auf. So kommt es, dass ich bald alleine laufe und meinen Gedanken nachhänge.
So alleine, nehme ich die Stille extrem wahr. Als dann auch noch dichter Nebel aufzieht, ist es beinahe unheimlich. Ich denke mir Geschichten aus, über Fabelwesen, die sich im Nebel verstecken um unbemerkt an uns Menschen vorbeiziehen zu können. Nicht furchterregend, sondern mysteriös. Irgendwann muss ich diese Fantasien aufschreiben.
Als ich unser Etappenziel erreiche fängt es gerade an zu regnen. Anja ist bereits im Zelt und hat’s sich gemütlich gemacht. Auch ich bin nun froh, angekommen zu sein. Der Rest des Abends vergeht mit Abendessen und Nachrichten schreiben. Es war ein guter Tag, der trotz relativ langweiliger Strecke ein „Zückerchen“ am Wegesrand für uns bereit gehalten hat.
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